Nothing but Sea and Sky
Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch beschreibt in seiner Erzählung Montauk aus den 1970er Jahren einen Spaziergang in Montauk. Montauk am westlichsten Zipfel Long Islands im Bundesstaat New York. Max Frisch schreibt über sein Erleben im Moment und seine assoziativ-aufsteigenden biografischen Erinnerungen. Er spaziert mit einer viel jüngeren Frau auf und ab der Küste entlang.
Mir im Kopf geblieben ist eben dieses Bild. Max Frisch, ein alternder Schriftsteller, läuft seiner jungen weiblichen Begleitung auf einem kleinen Pfad hinterher. Es ist Sommer. Es ist warm. Max Frisch hängt Gedanken an seine Vergangenheit nach. Max Frisch beobachtet. Die junge Frau, Lynn ohne Nachnamen, trägt ein kurzärmliges Oberteil und eine kleine Hose. Ihre Haare sind zu einem hochsitzenden Pferdeschanz mit einem Haargummi zusammengebunden. Der Pferdeschwanz hüpft auf und ab durch ihre Bewegungen auf dem unebenen Pfad. Max Frisch schreibt begehrend: «(…) diese scharfe Bewegung mit dem Kopf, um ihren Roßschwanz hinter die Schultern zu werfen.» Max Frisch konzentriert sich nicht auf die Worte Lynns oder die einmalige Aussicht. Er ist hauptsächlich angetan von dem vor ihm auf und ab hüpfenden, hoch sitzenden Pferdeschwanz und seiner eigenen inneren Welt.
Im Sommer 2023 verbringe ich ein paar Tage mit Colin in der kleinen französischen Stadt Lille. Colin ist betört von den olfaktorischen Markern der französischen Menschen, die ihm überall begegnen. Parfum ist hier wie Kleidung. Jede Person trägt jeden Tag ein Parfüm. Die Menschen kommunizieren über ihr visuelles und geruchliches Äusseres miteinander. Wir versuchen in einer Drogerie für uns passende Düfte zu finden. Das klappt nicht. Die Parfüms sind zu süss. Später schlendern wir durch die Gassen von Lille. Wir entdecken eine kleine Parfümerie mit unbekannten Düften kleiner Produktionslinien. Der Laden betört. (Scheinbar auch den Dackel der Ladenbesitzerin. Der Dackel versucht seine Nase in die frische Luft ausserhalb des Ladens zu strecken.) Colin und ich gehen hinein. Wir testen und riechen. Die Besitzerin weiss intuitiv, was wir suchen. Wir entdecken feinste Nuancen und Vorlieben. Colin mag Patchouli, Kakao, Rum und Tonkabohne. Ich entscheide mich für einen, wie ich finde, sommerlichen Duft «Nothing but Sea and Sky». Ich mag Bergamotte, Sandelholz und weissen Moschus.
Später gehen wir ins Kino. Alle drei Minuten schnuppere ich an meinem Arm und «Nothing but Sea and Sky». Der Duft macht, dass ich mich frei und ungezähmt fühle.
Beim Abendessen treffen wir eine für unsere Familie wichtige Entscheidung. Wir ziehen nicht zurück nach Amerika. Wir bleiben in der Schweiz. Trotz Colins Job in Neuengland, trotz unserer zahlreichen, lieben Freund:innen, trotz aller Offenheit, Freiheit und Grosszügigkeit, die wir in vielen Jahren und Begegnungen in Amerika so lieb gewonnen haben. Wir werden versuchen uns ein Leben in der Schweiz einzurichten. Es überwiegen die Gründe der guten Infrastruktur, unsere Lage in Europa, das behütete Aufwachsen der Kinder. Wir sind beide traurig über diese Entscheidung. Aber es denkt sich richtig an.
Ein paar Tage später bin ich zurück in unserer Wohnung in der Schweiz. Ich schnuppere immer noch an meinem Arm. Ich bin immer noch betört von «Nothing but Sea and Sky». Ich recherchiere die Herstellerin «Une Nuit Nomade». Ich lese über meinen Duft «Nothing but Sea and Sky.» Inspiriert ist der Geruch von Montauk. Montauk im Winter. Wenn der Ort verlassen ist und voller Schnee.
Der Geruch basiert auf dem Gedicht From Montauk Point. Der amerikanische Schriftsteller Walt Whitman schreibt in den 1880er Jahren über seinen Blick auf das Meer in Montauk im Winter. “(…) I stand as on some mighty eagle's beak, Eastward the sea absorbing, viewing, (nothing but sea and sky,) (…).”
Ich denke nach. Ich stelle mir einen winterlichen weissen Himmel, eine winterlich weisse See vor. Walt Whitman sieht keine Haargummis. Der Autor hängt nichts nach. Walt Whitman sieht die betörende Weite vor sich. Ich lese das Gedicht weiter. “The tossing waves, the foam, the ships in the distance, The wild unrest, the snowy, curling caps—that inbound urge and urge of waves (…).”
Walt Whitman erlebt ein ganz anderes Montauk als Max Frisch. Bei Walt Whitman gibt es keine Anhaftung an die eigene Vergangenheit, kein Begehren für gezähmte Haare in Pferdeschwänzen. Walt Whitman wird durch seine offene Beobachtung Teil von «Nothing but Sea and Sky». Ich schnuppere wieder an meinem Arm. Ich fühle sie wieder, meine freien und ungezähmten Kräfte. Ich stelle meine Geruchsknospen von Sommer auf Winter um. Ich lasse meinen eigenen enggewordenen schweizerischen Blick und die Erinnerungen an Max Frischs Haargummi-Montauk los. Ich weite meine Wahrnehmung durch meine Erinnerung an die Ostküste Neuenglands. Ich spüre das grosse Ganze, das Offene. «Nothing but sea and sky.»
Ich spüre mein sehnsüchtiges Herz. Haben wir die richtige Entscheidung getroffen in der Schweiz zu bleiben? Es fällt mir auf beim Schreiben dieser Gedanken, dass ich auf Deutsch schreibe. Zum ersten Mal seit Langem. Ich denke an die Schriften von Hannah Arendt. Ich erinnere mich an ihre Vorstellungen von schwimmenden Wurzeln und dem Heimatfinden in der eigenen Sprache.
Wo treiben mich meine schwimmenden Wurzeln hin? Wo finde ich ein Heim ohne weh? In meiner Nase? Reicht das?