Da hilft nur radikale Ehrlichkeit
Ein Gespräch mit Prof. Dr. Dorothée King über Wellbeing in der Kulturbranche
Interview: Iris Soltau
Kju Magazin, Ausgabe 69, Sommer 2022, Kinder- und Jugendkultur e.V., Hamburg, Germany
https://kinderundjugendkultur.info/aktuelle-infos/magazin-kju/
Übersetzt wird Wellbeing mit Wohlergehen, tatsächlich geht es bei dem Begriff um ein ganzheitliches Wohlbefinden, bei dem mentale, physische und soziale Faktoren – wie Erfolg im Beruf, Anerkennung und Selbsterfüllung – mit einbezogen werden. Warum ist das Thema Wellbeing besonders für Menschen im Kulturbereich so wichtig?
Diese Arbeit ist eben kein typischer Nine-To-Five-Job, die Menschen brennen leidenschaftlich für ihre Kunstform, ihre Zielgruppen oder die Häuser, für die sie tätig sind. Sie beschäftigen sich auch nach Feierabend mit ihren Projekten, machen sich Gedanken um Kritiken oder mangelnde Finanzierung. Aber wer brennt, kann auch schnell ausbrennen. Dazu kommt, dass wir alle mehr oder weniger in einem Niedriglohnsektor arbeiten. Und oft denken: ‚Ich sollte nicht jammern, ich verdiene nicht so viel, ich habe ja nicht die gleiche Verantwortung wie eine Bankchefin.’ Aber natürlich ist es viel Arbeit und die ist auch anstrengend, wir dürfen das eigene Werk nicht immer unterschätzen. Ein weiterer Punkt: Im Kulturbereich gibt es immer wieder Peaks, in denen sich die Arbeit türmt. Hier gibt es keine kontinuierliche, ruhige Arbeit, es ist immer so ein Auf und Ab von einem Projekt, von einer Frist zur nächsten. Das stresst zusätzlich.
Was sind Ihre ersten Maßnahmen, wenn Sie in ein von Überstunden und Corona völlig ausgepowertes Team kommen?
Meine erste Frage lautet immer: Was können wir weglassen? Kaum eine Institution traut sich, einmal richtig auszumisten. Diese Angst ist verständlich, niemand will sich selber überflüssig machen und so hält man oft an absurden Projekten fest. Da hilft nur eine radikale Ehrlichkeit im Team. Man sollte genau hinschauen und sich fragen: Welche Meetings machen überhaupt Sinn? Wo halten wir uns selber beschäftigt mit Bürokratie? Was bremst uns aus?
Haben Sie Tipps, wie man eingefahrene Bahnen verlassen kann?
Zunächst sollten wir uns fragen: Was genau sind die Werte unserer kulturellen Institution? Wofür steht sie? Haben sich die Grundsätze vielleicht mit der Zeit verschoben? Dafür braucht man eine Atmosphäre, in der die Mitarbeitenden angstfrei reden können. Danach kann das Aufräumen beginnen. Oft hilft es auch, Aufgabenbereiche zu tauschen. Manche tun sich vielleicht schwer mit dem Ausfüllen von Excel-Tabellen, andere lieben es. Auch dafür ist eine ehrliche Kommunikation die Basis.
Wie wichtig ist es, dass jemand von außen auf die Arbeit im Team guckt?
Das kann sehr hilfreich sein. Dafür muss man auch nicht gleich ein teures Coaching durchlaufen. Manchmal reicht es, wenn man bei befreundeten Kulturschaffenden anfragt: Hey, könnt ihr uns mal besuchen und einen Blick auf unsere Arbeitsabläufe werfen?
Wie motiviere ich andere im Team, wenn ich sehe, dass es ihnen schlecht geht?
Mit Sätzen wie ‚Ist doch nicht so schlimm’ schon mal nicht. Besser ist es, das Gesamtbild zu betrachten. Manchmal über-identifizieren wir Kulturschaffenden uns mit unserer Arbeit. Wir denken, unsere gesamte Welt hängt davon ab. In so einem Fall würde ich einladen, auch mal auf die anderen Lebensbereiche zu schauen. Familie, Freunde, Vitalität, Wohnen, Abenteuer, Spiritualität. So dass man versteht: Arbeit ist nur eine von ganz vielen Säulen, auf denen ich mein Leben aufbaue. Und dann sollte man einfach mal die Perspektive verschieben und gucken: In welchen Lebensbereichen läuft es gerade gut und welche Ressourcen und Strategien lassen sich auf meine Arbeit übertragen?
Stichwort Perspektivwechsel. Auf Ihrer Webseite steht der Satz „Lassen Sie uns die Realität auf humorvolle Weise sortieren und neu arrangieren, um Wahrnehmungsverschiebungen zu bewirken.“ Klingt toll, aber wie funktioniert das?
Ich komme ja aus dem Yoga, da helfen Umkehrhaltungen bekanntlich, um die Dinge mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Und dann gibt dieses Zitat von Albert Einstein: `Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.’ Das stimmt. In solchen Situationen hilft es, wenn man die Realität etwas verschiebt. Oft merken wir ja erst im Rückblick, dass wir ganz verbohrt an irgendwelchen Dingen festgehalten haben. Immer wieder rausgehen, anders gucken und neu justieren, das kann man üben. Indem man sich fragt: Worum geht es hier eigentlich wirklich? Wir können die Realität nicht komplett ändern, aber wir können unseren Blick darauf neu ausrichten.
Sie plädieren für „Jomo“ (The Joy Of Missing Out / Die Freude daran, etwas zu verpassen.) Was ist der Vorteil?
Hier eine Vernissage, da eine Fortbildung, im Kulturbereich ist man sowieso immer viel unterwegs. Dazu kommt der Druck, den wir uns selber machen: Alle haben jetzt einen Newsletter, brauchen wir auch einen? Sind wir schon bei TikTok und sollten wir nicht auch noch einen Podcast produzieren? Das überfordert uns. Da sage ich einfach mal: Stopp. Da machen wir nicht mehr mit. Stattdessen sollten wir lieber schauen: Welche Fähigkeiten bringen die Menschen in unserem Team mit? Was wollen wir wirklich machen. Dann kommt echte Energie rein.“
Viele Kreative leiden unter dem Wust der digitalen Informationen, der täglich auf sie einprasselt. Sie haben das Gefühl, keine eigenen Ideen mehr entwickeln zu können. Aber ganz auf Social Media verzichten, mag auch keiner…
Das erfordert ein Umdenken, klar. Wir sind jetzt an einem Punkt der digitalen Transformation angelangt, an dem wir uns fragen sollten: Wollen wir das wirklich? Und natürlich ist es anstrengender, sich mit einer Person richtig auf einen Kaffee zu treffen, statt nur über ihr Profil zu scrollen. Aber wir brauchen diesen Input! Es ist wichtig, dass wir uns die Zeit nehmen, ein Buch zu lesen, das uns interessiert. Oder tatsächlich in die Ausstellung zu gehen, also wirklich etwas Künstlerisches zu inhalieren. Oder alles um uns herum einfach mal abstellen, um selber kreativ zu arbeiten. Wir haben immer das Gefühl, wir dürften das nicht. Aber wer sagt das eigentlich?
Was können wir noch tun, um achtsamer mit unseren Ressourcen umzugehen?
Das ist natürlich von Mensch zu Mensch verschieden. Wichtig ist nur, dass wir uns fragen: Wie will ich meine Zeit verbringen? Geht es mir gerade um Abenteuer oder brauche ich Ruhe? Was ist mir derzeit eigentlich wichtig?
Wie tanken Sie selber Energie auf?
Gerade in stressigen Phasen hilft es mir, die kleinen Momente wertzuschätzen. Das Gespräch mit der Kollegin, der Spaziergang mit meinem Hund, die Fahrradfahrt zu einem Termin. Viele rennen und rennen durch die Woche, damit möglichst schnell Wochenende wird – aber hey, die schönen Augenblicke sind doch immer da.
Infokasten:
Prof. Dr. Dorothée King lebt in Basel und leitet an der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW das Institut zur Vermittlung von Kunst und Design (IADE). Ihre Reden und Achtsamkeitsinterventionen sind Einladungen, das eigene Lebens- und Arbeitsumfeld kreativ zu gestalten, von den Künsten zu lernen und auf Augenhöhe mit der Welt in Dialog zu treten.
dorotheeking.com